EuGH zur Abweichung vom Equal-Treatment
Ende 2022 hat der Europäische Gerichtshof nun (endlich!) über den in der Branche viel beachteten Vorlagebeschluss des BAG vom 16.12.2020 (5 AZR 143/19) entschieden (Urteil vom 15.12.2022 – C‑311/21). In diesem Verfahren ging es um die Frage, inwieweit rechtlich die Möglichkeit besteht, vom Equal-Treatment-Grundsatz (Gleichstellungsgrundsatz) durch Gesetz bzw. durch Tarifvertrag unter Beachtung der „Leiharbeitsrichtlinie“ abzuweichen (Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit). Ausgangspunkt war die Klage eines deutschen Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber im Rahmen der sogenannten Däubler-Kampagne (initiiert von Prof. Wolfgang Däubler). Geklagt wurde auf Zahlung des gleichen Arbeitslohns wie für gleich qualifizierte Arbeitnehmer des Einsatzbetriebs, es ging dabei um eine Entgeltdifferenz von 4,41 € pro Stunde.
Das BAG hatte dem EuGH am 16.12.2020 zahlreiche damit zusammenhängende Fragen zur Entscheidung vorgelegt, u. a. Fragen zur Reichweite des Gleichstellungsanspruchs, zur Zulässigkeit gesetzlicher Abweichungsregelungen und zur Umsetzung durch die Branchentarifverträge von iGZ und BAP.
Im Juli vergangenen Jahres hatte der Generalanwalt des EuGH in seinen Schlussanträgen die Frage nach der Möglichkeit einer tariflichen Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz zwar grundsätzlich bejaht. Allerdings müssten den betroffenen Arbeitnehmern in einem solchen Fall Ausgleichsvorteile (z.B. Prämien in relevanter Höhe) gewährt werden, die für den kundigen Betrachter im deutschen AÜG bzw. in den auf dieser Basis verhandelten Branchentarifverträgen nicht ohne Weiteres zu erkennen waren. Das Fehlen derartiger Regelungen führte im vergangenen Jahr wenig überraschend zu großer Unruhe in der Branche, weil man infolge einer möglichen Unwirksamkeit des Tarifsystems eine zweite „CGZP-Welle“ befürchtete.
Wie üblich folgte der EuGH in seinem Urteil nun zunächst der Rechtsauffassung des Generalanwalts. Demnach sei ein Tarifvertrag, der für Leiharbeitskräfte ein geringeres Arbeitsentgelt vorsehe, nur dann zulässig, wenn er ihnen Ausgleichsvorteile einräume. Diese Ausgleichsvorteile müssten auf „wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ gerichtet sein, so das Gericht. Es sei allerdings Sache der Tarifvertragsparteien auszuhandeln, welche Kriterien und Bedingungen in Bezug auf diese Ausgleichsvorteile gelten sollen.
Einerseits hat der EuGH damit das deutsche System, in dem der gesetzliche Gleichstellungsgrundsatz gemäß § 8 Abs. 1 AÜG gilt, aber gleichzeitig die Möglichkeit besteht, von ihm durch Tarifvertrag gemäß § 8 Abs. 2 S. 1 AÜG abzuweichen, nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Andererseits geht der EuGH in seinem Urteil hinsichtlich der vom Generalanwalt geforderten und vom EuGH bestätigten Notwendigkeit von Ausgleichsvorteilen über den Generalanwalt hinaus. Denn er stellt ausdrücklich fest, dass das von dem Verleiher gezahlte Entgelt in der Zeit des Nichteinsatzes bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen sei, ob der Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer beachtet worden sei. Zwar sagt der EuGH nicht ausdrücklich, ob die entsprechende Regelung in § 11 Abs. 4 S. 2 AÜG als Transformation dieses Grundsatzes in deutsches Recht diesem Anspruch genügt, sondern überlässt die Klärung dieser Frage deutschen Gerichten. Aber die überwiegende Meinung des Schrifttums neigt zu der Auffassung, dass die mögliche generelle Unwirksamkeit des Tarifsystems „vom Tisch“ und die Nichteinhaltung des Gesamtschutzes für jeden Einzelfall isoliert zu beurteilen sei.